Was Sie in der syndicom-Zeitung sehen, hat er gemacht: die Schrift, in der der Lauftext der Zeitung gesetzt ist. Gerard Unger, der Erfinder der Swift, sprach vor Kurzem in Bern über «Schriften in Bewegung».
In seiner Heimat, den Niederlanden, ist Gerard Unger seit mehr als 30 Jahren einer der angesehensten Schriftenentwerfer und Typografen. Neben «unserer» Schrift hat er unter anderem die Amerigo, Capitolium, Coranto, Vesta und BigVesta erfunden – und was er gestaltet hat, findet sich nicht nur in der syndicom-Zeitung, sondern weltweit in den bedeutendsten Tageszeitungen oder bei Leitsystemen, d. h. bei Orientierungshilfen im öffentlichen Raum.
In Bern nun referierte Unger im Rahmen der von syndicom mitorganisierten «Typoclub Afterwork Lectures» an der Hochschule der Künste; hier werden «impulsgebende und innovative Gestalterpersönlichkeiten aus Holland» präsentiert. Nicht ohne Grund: Die Typografie der Niederlande birgt nicht nur Bezüge zum Internationalen oder Schweizer Stil, sie zeichnet sich unter anderem durch Strukturiertheit – und Humor aus. Genau wie Ungers Referat, der sich damit ganz besonders an die Studierenden unter den zahlreichen Zuhörenden richtete.
Er tat dies mit dem – gelungenen – Versuch, «über die eigene Zeit hinauszuschauen». Denn: «Wir kommen nur weiter, wenn wir wissen, woher wir kommen.» Diesen Weg zeichnete Unger anhand «ausgeprägter Meinungen» zur Schriftgestaltung nach. Er begann im Jahr 1928 mit der neuen Typografie von Jan Tschichold und dessen Streben nach Reinheit und Klarheit; Ornamente hatten da nichts mehr zu suchen. Es ging darum, modern zu sein – wie es eben die serifenlosen Groteskschriften waren.
Stanley Morison, der Erfinder der Schrift Times, vertrat etwa zur gleichen Zeit eine ganz andere Meinung – nur wenige Betrachter vermochten überhaupt zu erkennen, was an seinen Schriften denn nun neu war. «Wie zurückhaltend kann man sein?», fragte Unger dazu – und das sollte nicht die letzte Frage sein, mit der er seine Zuhörerinnen und Zuhörer zum Nachdenken brachte.
Mit Karl Gerstner gelangte der Referent in die 1960er-Jahre und zur Schweizer Typografie, die grossen Einfluss hatte. Der technische Fortschritt brachte den Wunsch nach Vereinfachung mit sich, wobei die Grundformen der Buchstaben als unabänderlich gelten. Adrian Frutigers Univers – «eine wunderbare Schrift und am meisten von allen für Wegweiser benutzt» – oder die bereits 1957 entwickelte, extrem erfolgreiche Helvetica und der Versuch, eine «endgültige serifenlose Schrift» zu gestalten, waren weitere Beispiele, die Unger zur Frage führten: «Wie neutral kann man sein?»
Dieser gegenüber stand schon bald die Frage: «Wie persönlich kann man sein?»; Lesbarkeit und Schönheit wurden dabei zu Begriffen, die nachdenken liessen – immer wieder verglich Unger verschiedene Schriften und machte auf Details aufmerksam. Anhand seiner eigenen Swift – «wie holländisch kann man sein?» musste natürlich auch gefragt werden – forschte Unger den Quellen seiner Inspiration nach. Und kam zum Schluss: «Typografie ist international!»
Wie bewegt die Entwicklung der Schrift tatsächlich ist, dokumentierte Unger weiter mit den Impulsen der Neunzigerjahre, der Frage «Wie unperfekt kann man sein?», dem Versuch, alten Schriften neues Leben zu geben oder aber «super persönlich» zu sein und damit die Schrift als Kunst zu betrachten. Er nannte das Modell des frühen 21. Jahrhunderts – speziell Erik Spiekermann – und die Herausforderungen, die iPhone oder iPad an Schriften stellen.
Normale und wilde Schriften, betonte Individualität, die Lust, alles auszuprobieren – «wenn bei der Typografie alles automatisiert ist, bleibt nur noch der Spass!» – und schliesslich die Frage, wie national geprägt oder eben nicht Schriften sind, führten zu einem ebenso überraschenden wie schönen Schluss des Referats: zum Blick über die Grenzen Westeuropas hinaus und zur Hoffnung, dass die Art, wie man Schriften betrachtet, vielleicht auch einen Beitrag dazu leisten kann, die Welt anders zu sehen.