AHV- und BVG-Renten in Gefahr: «Hände weg von den Renten!»
«Es wird knüppeldick kommen», warnt Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Gemeint ist der konzertierte Angriff der bürgerlichen Parteien auf die AHV- und BVG-Renten, der nach den eidgenössischen Wahlen vom Oktober stattfinden soll. Tatsächlich sind die Anzeichen für einen drohenden Sozialabbau bei der Ersten und Zweiten Säule unübersehbar.
Auf dem Tisch des Parlaments liegen zwei Vorstösse der beiden St. Galler Ständeräte Eugen David (CVP) und Erika Forster (FDP). Beide betreffen die AHV. Forster verlangt eine Anhebung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre ohne Ausgleich. Dies spare 800 Millionen Franken, heisst es in der Begründung. David hat in der ständerätlichen Kommission für Gesundheit und Soziales eine Verschlechterung des Teuerungsausgleichs verlangt. Statt alle zwei Jahre will er den Ausgleich nur noch bei einer aufgelaufenen Teuerung von über vier Prozent entrichten und zudem vom Stand des AHV-Fonds abhängig machen. Das ergäbe für die Rentnerinnen und Rentner im Land einen jährlichen Kaufkraftverlust und würde faktisch zu gegenüber heute tieferen Renten führen.
Übles Gerede
Beide Vorstösse sind bürgerliche Anliegen aus der gescheiterten 11. AHV-Revision und somit nichts Neues. Neu ist aber, dass sie nun konzertiert aufs Tapet gebracht werden. Dass dies noch vor den eidgenössischen Wahlen vom 23. Oktober geschieht, kann kaum anders denn als bewusste Strategie gewertet werden. Nach den Wahlen, so die Hoffnung, soll bei den Sozialversicherungen endlich aufgeräumt werden. Forster und David dokumentieren selber, was das heisst: Die AHV-«Sanierung» soll allein auf Kosten der Rentnerinnen und Rentner gehen. SVP und FDP, aber auch die CVP wollen verhindern, dass auch nur ein einziger zusätzlicher Rappen aus der Staatskasse in die Erste Säule gesteckt wird. Im Hintergrund besteht der Wahn, der AHV gehe es mies. So schreibt Forster, dass die Beiträge die Einnahmen bereits heute nicht mehr deckten: «Die Situation verschlimmert sich von Jahr zu Jahr.» Das ist übles Gerede: Die AHV schreibt schwarze Zahlen. Der Überschuss in der AHV-Rechnung betrug letztes Jahr 1,9 Milliarden Franken, im Vorjahr sogar 3,9 Milliarden Franken – und dies bei steigender Rentnerzahl.
Auch bei der Zweiten Säule stehen die politischen Zeichen auf Sturm. Anfang September empfahl die Eidgenössische Kommission für die berufliche Vorsorge dem Bundesrat, auf das Jahr 2012 den Mindestzins für die Altersguthaben auf 1,5 Prozent zu senken. Er beträgt jetzt noch zwei Prozent. Kommt dies durch, können die Pensionskassen das Alterskapital der Versicherten noch schlechter verzinsen. Die Betroffenen müssten machtlos zusehen, wie ihr Vermögen mehr und mehr schmilzt. Zusammen mit dem Umwandlungssatz, der direkt die Rentenhöhe bestimmt und der bis 2014 stufenweise auf 6,8 Prozent gesenkt wird, resultieren dann tiefere Renten. Die Linke in der Kommission sträubte sich gegen einen tieferen Mindestzins, unterlag aber. Der Bundesrat wird im Herbst entscheiden. Schon jetzt warnt Doris Bianchi, geschäftsleitende Sekretärin beim SGB: «Ein Zinssatz unter zwei Prozent wäre ein fatales Zeichen.» Das Vertrauen in die Zweite Säule werde vollends untergraben.
Tabubruch
Dass bestehende Renten angetastet werden und die Senioren an die Sanierung der Zweiten Säule zahlen sollen, kommt einem Tabubruch gleich. Davon war bislang nie die Rede. Ausgelöst hat dies die Talfahrt des Finanzmarkts. Die Pensionskassen sind dem Treiben im globalen Geldcasino einerseits ausgeliefert, anderseits sind sie zusammen mit Fonds, Banken und Versicherungen selber Akteure im grossen Karussell der Finanzspekulation. Viele Berater stossen sich an diesem dicken Geschäft gesund: Rund vier Milliarden Franken versickern gemäss einer vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in Auftrag gegebenen Studie in Form von Kickbacks, Honoraren, Courtagen und Gebühren im Dickicht der Vermögensverwaltung – zum Nachteil und auf Kosten der Rentenbezügerinnen und -bezüger.
Macht dem niemand ein Ende? Es sieht ganz danach aus. Zumindest scheint es verfehlt, grosse Hoffnungen in die neue Pensionskassenaufsicht des Bundes zu setzen. Diese wechselt ab 2012 vom BSV zu einer externen Oberaufsichtskommission. Zu deren Präsident wurde im Juni Pierre Triponez gewählt, FDP-Nationalrat und ehemaliger Direktor des Gewerbeverbands. Triponez fiel bislang nicht durch Kritik am selbstherrlichen Gebaren der Versicherungen auf. Im Gegenteil: Noch im letzten Herbst entpuppte er sich bei der Revision des Unfallversicherungsgesetzes als getreuer Lobbyist der Privatversicherungen. Die Pensionskassenbranche wehrt sich heftig gegen jegliche Eingriffe in ihr einträgliches Geschäft.
«Kongress zur Rettung der Renten»
Die Losung der Linken und Gewerkschaften lautet daher: «Hände weg von unseren Renten!» Dieses Motto stand über einem Ende August in Gossau SG veranstalteten «Kongress zur Rettung der Renten», den Paul Rechsteiner mit den Gewerkschaften SEV, VPOD und syndicom organisiert hat. 300 Rentnerinnen und Rentner kamen und hörten alt Bundesrätin Ruth Dreifuss als prominentem Gast zu. «Madame AHV» sagte, die erste Säule dürfe nicht ab-, sondern müsse ausgebaut werden. Heute werde das Verfassungsziel, den Pensionierten den gewohnten Lebensstandard zu gewährleisten, verfehlt. Renten seien vertraglich vereinbarte Leistungen und dürften nicht einfach gekürzt werden.
Laut Paul Rechsteiner hat sich deutlich gezeigt, dass nur die Erste Säule krisenfest ist, die Zweite sei vom Finanzmarkt abhängig. Die Strategie des SGB geht nun dahin, die AHV auszubauen («AHV plus») und gleichzeitig das unsichere Pensionskassensystem zurückzubinden. Die Gewerkschaften werden dazu bald ein Konzept vorlegen. Auf jeden Fall lohnt sich der Widerstand gegen Rentenabbau: Sowohl 2004 («11. AHV-Revision») als auch 2010 (BVG-Abstimmung «Rentenklau») waren die Gewerkschaften mit ihren Referenden in den Volksabstimmungen siegreich. Gegen die geschlossene Phalanx von Wirtschaftsverbänden, Versicherungskonzernen und bürgerlichen Parteien setzten sie sich mit hohen Nein-Anteilen von 67 bzw. 72 Prozent durch. Das macht Mut für die künftigen Kämpfe um die Altersversicherung.
Ralph Hug, Germanist, Journalist und Autor, ist Mitglied des Pressebüros St. Gallen