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Managed Care: Gute Idee, schlechte Reform

Die Bevölkerung wird voraussichtlich in diesem Jahr über das neue Krankenversicherungsmodell Managed Care abstimmen. Nur noch wenige Unterschriften fehlen für das Referendum, das auch von syndicom unterstützt wird. Wir haben uns mit SP-Vizepräsident Stéphane Rossini unterhalten, einem der Hauptgegner der Vorlage.

 

syndicom: Bei der Förderung der integrierten Versorgung – der Managed Care – handelt es sich um eine alte Forderung der Linken und der Gewerkschaften. Wieso jetzt plötzlich die Ablehnung dieser Reform und die Unterstützung des Referendums?

 

Stéphane Rossini: Ganz einfach, weil diese Reform nicht gut ist. Der von der Mehrheit der eidgenössischen Räte beschlossene Kompromiss ist unausgewogen und einseitig. Die Förderung von integrierten Versorgungsnetzen ist an und für sich eine prima Idee. Die Zusammenarbeit zwischen den Ärzten und Ärztinnen und den übrigen Partnern im Gesundheitswesen muss möglichst eng gestaltet werden – zum Wohl der Patientinnen und Patienten. Aber der Entwurf, über den wir voraussichtlich im nächsten Jahr abstimmen werden, geht am Ziel vorbei. Er käme nicht allen Patienten und Patientinnen und nicht allen Versicherten zugute, sondern nur manchen unter ihnen. Und das können wir nicht akzeptieren.


Die Kräfte hinter dem Referendum sprechen von einem noch zunehmenden Risiko einer Zwei-Klassen-Medizin in der Schweiz; ist das nicht etwas übertrieben?

 

Durchaus nicht. Das entspricht der Realität. Die Mehrheit des Parlaments hat sich für ein Modell ausgesprochen, bei dem jene Versicherten, die im bisherigen System mit der vollkommen freien Arztwahl bleiben wollen, neu eine Kostenbeteiligung von 15 Prozent übernehmen müssten (gegenwärtig sind es zehn Prozent), und dies bis zu einem Gesamtbetrag von 1000 Franken (gegenwärtig 700 Franken). Jetzt kann man sagen, dass es sich hier nicht um bedeutende Beträge handelt. Wenn man aber weiss, wie sehr die Gesundheitskosten die Familien mit niedrigen oder mittleren Einkommen oder auch Personen mit chronischen Krankheiten belasten, so droht hier wirklich eine markante finanzielle Belastung. Sollte dieses Managed-Care-Modell in Kraft treten, müssten Leute mit bescheidenen Einkünften allein aus finanziellen Überlegungen einen Wechsel vornehmen. Sie hätten keine wirklich freie Wahl mehr.

 

Sie sprechen sich für ein Modell aus, bei dem die Menschen eher über finanzielle Anreize zum Beitritt zu einem integrierten Versorgungsnetz motiviert werden sollen.

 

Genau. Die Managed Care wäre sozialverträglich und politisch intelligent gewesen, wenn man statt einer Erhöhung der Kostenbeteiligung für Versicherte, die im klassischen Versicherungsmodell bleiben wollen, die Beiträge jener reduziert hätte, die sich für ein Versorgungsnetz entscheiden. Ein solches Konzept wäre korrekt. Besonders störend ist, dass der Entwurf des Parlaments sogar abschreckend wirkt, anstatt die Attraktivität der Managed Care zu steigern. Die Versicherten müssten nämlich eine Austrittsprämie zahlen, wenn sie ihre Verträge kündigen, und sie wären während der Laufzeit von drei Jahren an die Verträge gebunden.

 

Heute gibt es integrierte Versorgungsnetze vor allem in den städtischen Regionen der Deutschschweiz, wo sie übrigens sehr erfolgreich sind. Wäre es da nicht vernünftig, diese Struktur auf das ganze Land auszuweiten?

 

Hier liegt der zweite massive Fehler der Gesetzesrevision. Die Krankenkassen sind gar nicht dazu verpflichtet, solche Netzwerke anzubieten, und die Kantone haben nur wenig Handlungsspielraum auf diesem Gebiet. Das heisst also, dass die Patientinnen und Patienten in Randregionen oder dort, wo die Ärztedichte relativ niedrig ist oder wo die Gesundheitsversorgung zunehmend Lücken aufweist, oft gar keine Möglichkeit hätten, sich einem solchen Modell anzuschliessen. Mit dem aktuellen Entwurf werden gewisse Versicherte somit doppelt bestraft: Sie können sich keinem Versorgungsnetz anschliessen, da gar keines existiert, und gleichzeitig nimmt ihre Kostenbeteiligung zu. Das ist doppelt ungerecht.


Nun sind die Krankenkassen keine Wohltätigkeitsvereine. Wieso sollten sie unbedingt ein Managed-Care-Modell auch dort vorschlagen, wo es nicht rentabel wäre?

 

Sie legen da den Finger auf einen wunden Punkt. Wir lehnen eine Kommerzialisierung der Gesundheit ab. In diesem Bereich darf sich die Politik nicht in erster Linie an der Rentabilität oder am Gewinn orientieren. Aber der aktuelle Gesetzesentwurf verpflichtet die Netzwerke gerade zur Budgetverantwortung. Es besteht ein echtes Risiko, dass sich hier rein wirtschaftliche Interessen zulasten der Qualität der Pflegeleistungen durchsetzen. Damit wären gewisse Akteure im Gesundheitswesen sehr stark versucht, bei den Pflegeleistungen Rationalisierungsmechanismen einzuführen. Wollen wir das wirklich?

 

Über diese Managed-Care-Vorlage wurde in den eidgenössischen Kammern volle fünf Jahre lang debattiert. Eine Niederlage in der Abstimmung würde doch bestätigen, wie schwierig, ja praktisch unmöglich es ist, das Gesundheitssystem in der Schweiz zu reformieren.

 

Das kann ich nicht bestreiten. Aber solange es in diesem Bereich nicht einen klaren politischen Willen gibt, droht ein Projekt nach dem anderen zu scheitern. Jeder ist nur auf sich selbst bedacht, der Bund, die Kantone, die Ärzte und Ärztinnen, die Versicherten und die Versicherer – und diese Aufzählung ist noch nicht einmal vollständig. Beim vorliegenden Entwurf kommen die Versicherer viel zu gut weg. Einmal mehr, übrigens. Und das können wir einfach nicht akzeptieren.

 

Ist Ihre Ablehnung dieses Managed-Care-Modells nicht auch auf taktische Hintergedanken zurückzuführen, dass die Einheitskrankenkasse, die Ihnen so sehr am Herzen liegt, grössere Chancen hätte, wenn dieses Gesetz bei der Abstimmung scheitert?

 

Überhaupt nicht. Dieser Vorwurf entbehrt umso mehr jeglicher Grundlage, als die öffentliche Krankenkasse, für die ich mich einsetze, ebenfalls integrierte Versorgungsnetze fördern soll. Uns geht es um die Patienten und Patientinnen. Und deshalb unterstützen wir das Referendum.

 

Mohamed Hamdaoui, Kommunikationsverantwortlicher bei syndicom

 

 

Managed Care, kurz gefasst

Der Bundesrat lancierte die Managed Care im Jahr 2004 unter der Ägide von Pascal Couchepin. Fünf Jahre lang wurde im Parlament über die Vorlage gestritten, bis sie am 30. September 2011 endlich in der Schlussabstimmung genehmigt wurde, und zwar mit 133 zu 46 Stimmen bei 17 Enthaltungen im Nationalrat und mit 28 zu sechs Stimmen im Ständerat; jetzt werden Referendumsunterschriften dagegen gesammelt. Managed Care sieht die Förderung von integrierten Versorgungsnetzen in der Grundversicherung vor; davon verspricht man sich neben der Koordination der Pflegeleistungen, dass überflüssige Arztbesuche vermieden werden und dass sich die «Qualität» der Versicherten verbessert. Kurz: Die Versicherten, welche sich für dieses Modell entscheiden, dürfen sich nur von Ärzten oder Ärztinnen und Gesundheitsprofis behandeln lassen, die dem Netzwerk angehören. Versicherte, welche dies ablehnen und die völlig freie Arztwahl beibehalten wollen, müssen künftig eine Kostenbeteiligung von 15 Prozent übernehmen (gegenwärtig zehn Prozent), und dies bis zu einem Gesamtbetrag von 1000 Franken. Sie werden somit gegenüber heute schlechter gestellt. Dabei wird dieses Managed-Care-Modell nicht unbedingt überall angeboten, da die Krankenkassen fürs Erste nicht verpflichtet sind, diese Netzwerke flächendeckend anzubieten. Allerdings könnte der Bundesrat die Versicherer wenn nötig auf dem Verordnungsweg dazu zwingen. (mh)

 

Pro und Kontra

Für die Befürworterinnen und Befürworter der Managed Care (Bundesrat, bürgerliche Parteien, Krankenkassen und eine nicht unerhebliche Minderheit der Ärzte und Ärztinnen sowie eine etwas kleinere Minderheit bei den linken Parteien) soll dieses Modell in absehbarer Zeit zur Norm werden. Ihr Hauptargument: Indem für die Mitglieder der Versorgungsnetze Anreize geschaffen werden, eine Budgetverantwortlichkeit zu übernehmen, fallen Einsparungen im Bereich der Gesundheitspolitik leichter.

 

Und dann sieht der von der Parlamentsmehrheit genehmigte Text eine Verfeinerung des Risikoausgleichs vor, also jenes Instruments, welches die Kostenverteilung zwischen den Krankenkassen gemäss dem Gesundheitsprofil ihrer Versicherten regelt. Insbesondere wurde die entsprechende Liste ergänzt um den Gesundheitszustand (die sogenannte Morbidität); davon verspricht man sich einen Rückgang der Jagd der Versicherer auf die guten Risiken.

 

Den linken Parteien, den Gewerkschaften und der schweizerischen Ärztegesellschaft FMH genügt das nicht. Sie haben zusammen mit weiteren Organisationen das Referendum ergriffen oder unterstützen es (siehe auch Interview mit Stéphane Rossini). Bis zum 19. Januar 2012 müssen sie mindestens 50 000 Unterschriften sammeln. (mh)

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