Lehrstellenproblematik: Ein Wechsel mit Tücken
25 000 Jugendliche in der Schweiz schaffen jedes Jahr den Übergang von der obligatorischen Schulzeit in die Ausbildung nicht. Sie landen auf unbestimmte Zeit in einer Art «Wartesaal». Diese beunruhigende Lage scheint sich trotz vielen Anstrengungen der Behörden nicht zu verbessern.
Professor Thomas Meyer präsentierte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz der Pädagogischen Hochschule und der Universität Lausanne Auszüge aus dem Forschungsprojekt TREE («Transition de l’école à l’emploi» – Übergang von der Schule zum Beruf, siehe Kasten unten). Dabei wies er auch auf das ungelöste Problem jener Jugendlichen hin, die den Anschluss verpassen und nach der obligatorischen Schulzeit keinen Beruf erlernen. Es sind keine Ausnahmefälle. Man spricht von 20 000 bis 25 000 Jugendlichen, rund 25 Prozent der betroffenen Altersgruppe, welche die Schule ohne konkrete Zukunftsaussichten verlassen.
Der Wechsel von der obligatorischen Schulzeit in die Ausbildungsphase stellt entscheidende Weichen im Leben der Heranwachsenden. Er ist der Ausgangspunkt für einen Prozess der sozialen Integration, der das ganze Leben beeinflusst. Wenn er misslingt, sind negative Auswirkungen vorprogrammiert: Verlust des Selbstvertrauens, fehlende Orientierung und oft auch finanzielle Probleme, welche die Schieflage noch verstärken.
«Dieses Problem macht dem Staat Sorgen»
Die Behörden sind angesichts dieser Problematik nicht untätig geblieben. Zahlreiche Auffangstrukturen und Institutionen für die berufliche Eingliederung wurden geschaffen, «sogar zu viele», wie die Soziologin Caroline Regamey vom Centre Social Protestant (CSP) meint: «Bis im Jahr 2007 war es den Jugendlichen praktisch unmöglich, sich im Wirrwarr der Integrationsangebote zurechtzufinden. Wir mussten zuerst für eine gewisse Koordination zwischen den verschiedenen Anbietern sorgen.»
Das letzte Projekt zur Unterstützung bei der beruflichen Integration wurde im Kanton Waadt im Jahr 2006 initiiert, FORJAD, welches die Jugendlichen in allen Etappen ihrer Ausbildung begleitet. Der Aufbau eines solchen Projektes ist komplizierter, als es scheinen mag, betont der stellvertretende Generalsekretär des Gesundheits- und Sozialdepartements Philipp Müller: «Am Anfang hatten auch viele Fachleute starke Vorbehalte gegen dieses Projekt. FORJAD war konzipiert als Auffangbecken für junge Erwachsene, die keine Lehrstelle fanden oder ihre Berufsbildung aus verschiedenen Gründen abgebrochen hatten, und da waren Zweifel bezüglich seiner Wirksamkeit durchaus verständlich. Durch den Erfolg von FORJAD haben wir nun gesehen, dass die mangelnde Motivation und das Risiko der sozialen Desintegration behoben werden können oder mindestens sehr stark abnehmen, wenn es den Behörden gelingt, eine reale und solide abgestützte Perspektive für eine Berufsbildung anzubieten. Dank der Unterstützung durch die gesamte Bevölkerung des Kantons Waadt für diese jungen erwachsenen Sozialhilfebezüger und dank konsequenten Investitionen in ihre Zukunft sind heute mehr als tausend dieser Personen keine ‹Sozialfälle› mehr.»
«Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage»
Laut Philipp Müller beruhen die Schwierigkeiten der Jugendlichen nicht zwangsläufig auf mangelndem gutem Willen – aber worauf denn dann? Die Behörden unterstützen natürlich, dass neue Lehrstellen geschaffen werden, aber damit ist das Problem noch nicht gelöst, wie Pascale Moritz sagt. Sie arbeitet als Psychologin beim kantonalen Amt für Schul- und Berufsbildung in Neuenburg.
Ihrer Meinung nach geht es um das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Ihre junge «Kundschaft» möchte meist in künstlerischen oder medizinischen Berufen arbeiten wie zum Beispiel als Grafikerin oder Praxisassistent; zusätzliche Lehrstellen gibt es aber vor allem im Baugewerbe oder in der Maschinenindustrie. «Wenn die Jungen merken, dass ihre Vorstellungen unrealistisch sind, müssen sie das zuerst einmal verdauen. Das dauert seine Zeit. Erst dann ist die Suche nach einem neuen Beruf möglich», sagt sie.
Zu diesem strukturellen Problem gesellen sich bisweilen persönliche Schwierigkeiten. Mit der Berufswahl trifft man einen Entscheid, der das ganze Leben prägt – das ist an sich schon nicht einfach. Und im Alter von 16 Jahren kann dies eine enorme Belastung sein, wie Pascale Moritz hervorhebt. «Der Wechsel von der Schule in den Beruf findet ausgerechnet in der sensiblen Phase der Adoleszenz statt, in welcher man auf der Suche nach sich selbst ist. Im Prinzip setzt die Berufswahl ja voraus, dass man weiss, wer man ist. Manchmal braucht man ganz einfach mehr Zeit für den Aufbau des Selbst und dann der eigenen Zukunft.»
Vielversprechendes Projekt
Caroline Regamey verweist daneben auf den Einfluss des sozioökonomischen Status der Familie bei dieser ersten grossen Veränderung: «Oft haben Kinder aus den schwächsten Familien am meisten Schwierigkeiten bei der Berufswahl. Die Eltern fühlen sich machtlos und sind schlicht nicht in der Lage, die Unterstützung anzubieten, welche die Heranwachsenden nötig hätten. Hier scheint mir das Projekt ‹Case-Management› besonders vielversprechend. Damit werden gefährdete Jugendliche am Ende der obligatorischen Schulzeit sofort erfasst. Die Unterstützung muss einsetzen, bevor das Problem manifest wird. Einen Jugendlichen, der schon mehrere Monate lang nichts mehr getan hat und der sein Selbstvertrauen verloren hat, kann man nicht mehr so leicht abholen.»
Die Fachleute befürchten, dass sich dieses Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage noch verschärfen wird – und zwar trotz dem politischen Willen, die Arbeitgeber dazu anzuhalten, mehr Lehrstellen anzubieten.
Solenn Ochsner, freischaffende Journalistin